Der Verleger und Heinrich-von-Kleist-Forscher Günther Emig, langjähriger Leiter der Heilbronner Stadtbibliothek, Ludwig-Pfau-Experte, Oskar-Panizza-Herausgeber, Begründer des Kleist-Archivs Sembdner und einiges mehr, was man unmöglich alles behalten und auswendig aufsagen kann, versucht in seinem jüngsten Rundschreiben aus dem Prinzessinnenhaus in Haltenbergstetten allen „Freunden der Gegenwarts- und Vergangenheitsliteratur die Tage in Ihrer Conora-verursachten Eremitenexistenz etwas erträglicher zu machen.“ Und zwar:
„Wenn der Zeigefinger schmerzt, weil Sie inzwischen sämtliche Fernsehsender durchgezappt haben, versuchen Sie es doch mal mit der Lektüre eines Buches“, empfiehlt er und erwartet ausdrücklich keine anhaltenden Ovationen für diesen originellen Tip.
Neben erstaunlichen Jahrbüchern, Regionalia und moderner Literatur aus dem eigenen Verlag (die man hier bestellen kann) geht es in der Empfehlung natürlich vor allem um Kleist. Aber weniger um die Originale, die wir ja alle kennen. (Ist es nicht so?) Mit denen wäre man in diesen Tagen nämlich viel zu schnell fertig. Nein, Emig empfiehlt etwas anderes und schreibt:
Ein riesiger Schmöker mit über 3.000 Druckseiten ist der Kolportageschinken „Das Käthchen von Heilbronn“, an dem man sich besoffen lesen kann […] Liebe, Triebe & Eifersucht, Hinterlist & Giftmord, Entführungen. Manchmal auch was fürs Herz & Gemüt… Kurz, all das, was man von den Räuberpistolen à la Rinaldo Rinaldini kennt. Nur sollte man ganz schnell alles vergessen, was man über das gleichnamige Theaterstück von Kleist in der Schule gelernt hat.
Über 3000 Seiten „Käthchen von Heilbronn?“ Wie jetzt? Kam Reclam nicht mit knapp über 100 Seiten aus?
Dazu sollte man mehr wissen: – Nur drei seiner Stücke sind zu Lebzeiten Heinrich von Kleists überhaupt aufgeführt worden und zwei davon sogar nur je ein einziges Mal. Lediglich das „Das Käthchen von Heilbronn oder Die Feuerprobe“ brachte es immerhin auf 15 Aufführungen, und zwar im Jahre 1810 im Theater an der Wien.
Wie Andreas Sommer in der Heilbronner Stimme schrieb, wurde das Stück erst dann zum Publikumserfolg, als es der Bühnendichter und Theaterdirektor Franz von Holbein in einer frühen Art von eigentlich typisch neudeutschen „Regietheater“ (damals immerhin noch ohne Körpersäfte, Polit-Indoktrination, Glatzen und Springerstiefel auf der Bühne) eigenmächtig umschrieb. Seine Raubkopie soll im 19. Jahrhundert 1200 Aufführungen erlebt haben. Sogar die erste Aufführung des „Käthchens“ in Heilbronn ging am 6. Januar 1835 dreist unter dem Verfassernamen Holbein, nicht Kleist, über die Bühne.
Später entstanden volkstümliche Prosabearbeitungen des Käthchen-Stoffs, etwa von Johann Peter Lyser (1839) oder Ottmar Schönhuth (1854). Vor allem aber wurde der populäre Theaterstoff im 19. Jahrhundert zu Nacherzählungen und Kolportageromanen verarbeitet, womit wir endlich bei der von Günther Emig in seinem Corona-Rundschreiben empfohlenen Langversion sind: Die stammt von dem heute völlig unbekannten Autor Robert Frankenburg. Der von ihm geschriebene sehr frühe – und gewiß spannendere – Vorläufer der Lindenstraße und anderer heutiger Fernseh-Seifenopern erschien ab dem Jahre 1900 in Dresden in hundert Heftchen zum Preis von je zehn Pfennig. In diesen vermengte er unter dem Titel Das Käthchen von Heilbronn. Romantische Erzählung den Käthchen-Mythos ungeniert mit anderen Kleist-Stücken und selbst ausgedachten Zusatzhandlungen. Dieses Musterbeispiel eines „Trivialromans“ traf den Nerv der Zeit, war spannend und wohl auch ziemlich erfolgreich. Am Ende kam der Roman auf sage und schreibe 3196 Seiten voller Liebe und Triebe, Eifersucht, Hinterlist, Giftmord, Entführungen, Herz und Gemüt.
Bereits 1869 hatte übrigens ein heute ebenso unbekannter Autor, nämlich Stanislaus Graf Grabowski, seine in Berlin erschienene Käthchen-Version um württembergische Elemente angereichert. In seinem „nur“ 1200-seitigen Schmöker mixte er unter anderem den Götz von Berlichingen und die Schwarze Hofmännin in das Käthchen-Umfeld. Hören und bestellen kann man diese Version heute übrigens auch wieder, und zwar hier.
Das von Emig besonders empfohlene Frankenburg-Käthchen gibt es in einem empfehlenswerten Nachdruck für schlappe 50 Euro im Schuber im originalen Druckbild samt 100 farbigen Illustrationen (nämlich den Titelblättern der einzelnen Hefte) – also für 1,6 Cent pro Seite –, während Emig die digitalisierte Ausgabe offenbar für diejenigen Leser empfiehlt, die zu bildungsfern aufgewachsen sind, um ein vor 120 Jahren im Lande der Bildungsbürger, Literaten und Ingenieure erschienenes Druckwerk zu lesen. Wer das nicht kann oder will, muß sich heute eben an die „Normalschrift“ der Nationalsozialisten halten, die uns seit Januar 1941 als Ersatz für die von Hitler als „Schwabacher Judenlettern“ verfehmte und verbotene Fraktur angedient wird.
Alles weitere über das umfangreichste Käthchen von Heilbronn, das jemals im Druck erschienen ist, findet man, jedenfalls mit der derzeit ohnehin angebrachten Geduld, auf der Website von Günther Emig. Dort findet man auch den Ort, von dem man die 3196 Seiten in digitalisierter Form herunterladen kann:
Der Käthchen-Roman von Robert Frankenburg digitalisiert: http://www.der-kaethchen-roman-von-robert-frankenburg
Der Käthchen-Roman von Robert Frankenburg als Nachdruck: https://www.booklooker.de/Bücher/Angebote/autor=Frankenburg&titel=Käthchen
In Verbindung stehender Text: Heinrich von Kleist entsorgt?