„Würzburg! Eine saubere, vornehme, wenig bevölkerte Stadt. Studenten mit blauen Kappen. Die kleine Familie besichtigte einen riesigen Palast mit Bildern italienischer Maler. Ein Zimmer, in dem das Echo den Ton vervielfacht wiedergab. Wenn man ein Stück Papier zerriß, so klang es wie eine Trompete…“
Drei ]ahre vor seinem Tod schrieb Italo Svevo, 64jährig, diese Zeilen im Stile des „Bewußtseinsstromes“ im Ulysses seines Freundes James Joyce, an dessen Romanfigur Leopold Bloom vieles an Svevo erinnert. Die Zeilen stehen am Beginn seiner Erinnerungen an seine Jugend in Franken. Fünf Schuljahre, das erste davon allerdings nur zur Hälfte, verbrachte Svevo, der eigentlich Aron Schmitz hieß, und den man Ettore nannte, bis 1878 im Brüsselschen Institut, einer in ganz Europa und sogar in Amerika bekannten privaten Handelslehranstalt mit Internat in Segnitz am Main. Der kleine Ort liegt von Würzburg aus nur eine kurze Bahnfahrt nach Marktbreit entfernt: direkt am Mainufer, auf der anderen Seite des Flusses. In Segnitz, bei der Lektüre von Hauff, Körner, Goethe und Schiller, sowie Shakespaare auf Deutsch entdeckte Ettore seine Liebe zur Literatur.
Dies war ein Grund, warum sich 1987 erstmals eine vielbeachtete Tagung von Literaturwissenschaftlern aus aller Welt an der Universität Würzburg mit Svevos literarischen Wurzeln beschäftigte.
Franken, so schien es damals, würde eine Literaturgröße für sich entdecken, einen der bedeutendsten Vertreter des modernen italienischen Romans und Schöpfers von Zeno Cosini, der unvergleichlichen Hauptfigur jenes Romans, der sich als erster der Weltliteratur humorvoll-ironisch mit der Psychoanalyse beschäftigte (La coscienza di Zeno, zu deutsch sinngemäß: „Zenos Selbstbetrachtung“). Würzburgs Bürgermeister hatte sich bei seinem Empfang für die internationalen Gäste im Wenzelsaal spontan angetan gezeigt von diesem deutsch-italienischen Aspekt der Europastadt. „Jetzt fehlt nur noch eine Via Italo Svevo, eine Svevo-Straße in Würzburg“, sagte ein italienischer Wissenschaftler zum herzlichen Empfang.
Seitdem las man jedoch, von wenigen Ausnahmen abgesehen wie etwa einen Absatz in einem Artikel zu einer Jahreshauptversammlung des Börsenvereins des deutschen Buchhandels in Würzburg vor etwa 15 Jahren, kaum mehr etwas über die Beziehung des „deutschen Italieners“ zu Franken, obwohl Svevo mehrmals in seinem Leben nach und durch Würzburg reiste, vor allem natürlich als Schüler, als er auch mindestens einmal seinen Internatsdirektor und Lehrer Samuel Spier, eine der Schlüsselfiguren der deutschen Demokratiebewegung im 19. Jahrhundert, nach Frankfurt begleitete.
Die Familie, so ist es nachzulesen in seiner am 1. Mai 1925 niedergeschriebenen, autobiographischen Erzählung L’avvenire dei ricordi („Die Zukunft der Erinnerungen“), machte zunächst nicht nur gute Erfahrungen in der Stadt. 1874, als die Eltern den jungen Ettore gemeinsam mit seinem älteren Bruder Adolfo nach Würzburg und weiter nach Segnitz brachten, wäre die vierköpfige Familie dort nämlich fast im Gefängnis gelandet.
Als Vater Franz Schmitz im Hotel die Geldbörse zückte, um die Rechnung mit Banknoten aus dem habsburgischen Triest zu bezahlen, witterte der Hotelbesitzer Betrug. Solch seltsames Geld hatte er noch nie gesehen!
Entsetzt darüber, was man ihm für Geld andrehen wollte, kam der Mann hinter seiner hölzernen Balustrade hervor und nahm die Familie kurzerhand gefangen. „Er brüllte nach allen Regeln der Kunst“, erinnerte sich Svevo als alter Mann an diesen Vorfall.
Franz Schmitz mußte eilig weg und sein Geld gegen in Würzburg gangbare Münze tauschen. Das Gepäck, die ganze zu Tode erschrockene Familie samt der weinenden Mutter blieb im Hotel als Pfand zurück. Es handelte sich wahrscheinlich um eines der beiden damals bekannten Hotels am alten Bahnhofsplatz, „Exzelsior“ oder „National“, von denen eines unter dem Namen „Regina“ heute noch existiert.
Es dauerte lange, bis der Familienvater seine Lieben auslösen konnte, und er hatte einen schlechten Kurs für seine Banknoten bekommen: „Was für ein Land von Spitzbuben!“ machte er sich auf italienisch Luft, als er die Rechnung zahlte. Als „Provinzler und Ignoranten“ bezeichnete er die Würzburger Hoteliers und Geldwechsler, die die Noten der mächtigen Banca Triestina angeblich nicht kannten.
Es war ausgerechnet in Würzburg das erste Mal in seinem Leben, schrieb Svevo 50 Jahre später, daß er seinen Vater, der freudig seine Söhne diesem Land anvertraute, etwas Negatives über Deutschland sagen hörte.
Noch eine Anekdote am Rande: Beim Empfang im Wenzelsaal legte der Bürgermeister den Teilnehmern der denkwürdigen Literaturtagung auch das „Studium“ des Frankenweins ans Herz: „Sie können dadurch in Würzburg ein gutes Werk tun“, spielte er auf die Würzburger Weingut-Stiftungen und deren angeschlossene Sozialeinrichtungen an.
Dazu paßt, wenn man es mit Humor sieht, auch ein anderer „Sozialfall“, den Italo Svevo 1913 in Würzburg persönlich kennenlernte, als er mit Frau und Tochter nämlich die Stätten seiner Jugend noch einmal besuchte. In einer Weinstube, so erzählte mir vor einigen MonatenSvevos Tochter Letizia in Triest
[1. Der Aufsatz wurde Ende 1987 geschrieben und war am 2. Januar 1988 unter dem Titel „Italo Svevo erlebte Würzburger: Trinkfest, wortkarg und mißtrauisch.“ in der Stadtausgabe der Mainpost in Würzburg (Seite 18) erschienen. Der damals leicht gekürzte Text wurde hier nach dem Manuskript um einen fehlenden Satz und um zwei kleine Korrekturen ergänzt.]
, erlebte man einen „seltsamen fränkischen Brauch“: Ein Student oder Schüler in farbenfroher Uniform saß allein am Nachbartisch. Einen Schoppen nach dem anderen bestellte er sich. Und schnell waren seine Gläser leer.
Jedesmal wenn die Kellnerin (oder war es ein Kellner? – Das wußte die Erzählerin nicht mehr genau.) ein neues Glas brachte, machte sie mit dem Stift ein Zeichen in die Unterlage des Glases. Diese scheinbar rein fränkische Art des Zählens kannte man in Triest nicht.
Der Mann hat schon ein halbes Dutzend Striche auf der Unterlage“, flüsterte Letizia ihrem Vater zu. Aufmerksam geworden, hielt der nebenan sitzende Student darauf plötzlich im Trinken inne. Er stand auf, ging auf den Familienvater zu und hob die Hand: „Mein guter Herr, ich grüße Sie!“ Sprach’s, machte auf dem Absatz kehrt, ging an seinen Tisch zurück und trank weiter. Eine weitere Konversation kam nach Letizias Erinnerung nicht zustande.
Unlöschbar war seitdem in der Familie des Triester Romanciers die Erinnerung an Franken mit der Wortkargheit und Trinkfestigkeit der dort lebenden Menschen verbunden.